TelefonSeelsorge in Grenzbereichen des Lebens
Gekürzte Fassung eines Artikels aus dem im Juni 2015 erschienen Buch zur Sterbehilfe: U.Lilie, W.Beer, E.Droste, A.Giebel (Hrsg) Würde, Selbstbestimmung, Sorgekultur – Blinde Flecken in der Sterbehilfe. Hospizverlag ISBN 978-3-941251-5
Von Rosemarie Schettler
Der Tod ist Teil des Lebens. Selbstverständlich. Auch Gespräche über Todeswünsche und Suizidideen gehören dazu. Dennoch sind Gespräche über den Tod nicht alltäglich. Themen, die Tod, Sterben und Suizid betreffen, werden nicht zwischen „Suppe und Kartoffeln“ angesprochen.
Im Sprechen über den Suizidwunsch kann sich klären, in welcher Phase der Suizidalität die Anrufenden stecken, wie akut der Suizidwunsch ist und welche Art der Hilfe gewünscht und möglich ist. Es kann z.B. darum gehen:
- Druck zu benennen und zu entlasten
- endlich mal jemanden finden, der die erlebte Verzweiflung hört und ernst nimmt
- den Suizidwunsch mal laut sagen
- klären, ob es Alternativen zum Sterben gibt
- Abschied nehmen
- auf dem Weg in den Tod nicht allein zu sein
Wie äußern sich Menschen, die sterben wollen
„Mir wird alles zu viel.“ „Ich bin den anderen nur eine Last.“ „Wenn das doch mal aufhören würde!“ Hier formulieren Menschen einen eher allgemeinen Wunsch, so nicht mehr leben zu wollen, verbunden mit einem starken Gefühl von Perspektivlosigkeit und oder Überforderung. Sie wollen all dem Schweren für immer ein Ende setzen. Und eigentlich suchen sie eine Lösung und keinen Tod.
Andere Anrufende sind voller Wut, Verzweiflung, Aggressivität. Sie pöbeln Mitarbeitende an und „drohen“ mit Suizid. Sie wirken druckvoll, verzweifelt, manipulativ, der Kontakt mit ihnen ist anstrengend. Sie machen uns vor, wie qualvoll ihr Lebensgefühl gerade ist.
Eine dritte Art sind die ruhigen, klar wirkenden Anrufenden. Sie haben einen konkreten Suizidplan, manchmal die Medikation schon bereit gelegt oder geschluckt. Sie suchen ein sogenanntes „finales“ Gespräch. Ziel ist es, Abschied zu nehmen oder auf dem Weg in den Tod nicht allein zu sein.
Was Mitarbeitende in der TelefonSeelsorge tun
Die Gespräche dienen der Begegnung und Begleitung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Ein aufrichtiges Beziehungsangebot wirkt oft lebenserhaltend. So hoffen Mitarbeitende in der TelefonSeelsorge, dass auch diese Beziehung entlastet und trägt, auch über das Gespräch hinaus. Das kann gelingen. Es gibt aber keine Garantie, denn Anrufende entscheiden, wie es weiter geht. Mitarbeitende in der TelefonSeelsorge haben Mitverantwortung für die Gestaltung des Gespräches. Sie wissen aber nicht, wie sich Anrufende nach Gesprächsende entscheiden.
Im Falle des Suizidwunsches heißt das, dieser Wunsch wird ernst genommen. Er wird nicht bagatellisiert, nicht weggeredet. Es wird nicht das „Licht am Ende des Tunnels“ gezeigt. Es wird gewürdigt, dass es gute Gründe gibt und sie oder er nicht leichtfertig mit dem Leben spielt.
Wenn klar ist, was die Anruferin oder der Anrufer will, muss der Mitarbeitende prüfen, was ihm für das Anliegen des Anrufenden möglich ist. Wird er in der Lage sein, einen seinen Tod planenden Menschen zu begleiten – aufrichtig, anteilnehmend, wertschätzend? Wird er mit dessen Tod weiterleben können?
Aus der Praxis
Mitarbeitende, die finale Gespräche geführt hatten, berichten:
- „Ich habe nicht gedrängt, es nicht zu tun, das hat das Gespräch sehr intensiv werden lassen.“
- „Der junge Mann wollte sterben und nicht allein sein. Der Mensch an seiner Seite sollte einfach bei ihm sein, nicht “ziehen“. Ich konnte seinen Wunsch zu sterben nicht gut heißen, aber nachvollziehen. Ich habe ihn nicht retten wollen, weil er das nicht wollte.“
- „Der krebskranke Anrufer litt unter extremen Schmerzen, die Medikamente empfand er als unzureichend. Er war mehr als ärgerlich, dass er in Deutschland keine Hilfe zum Sterben fand, so dass er in seinem Zustand dafür ins Ausland fahren musste.“
Mitarbeitende, die nicht wissen, ob es ein finales Gespräch war:
- „der Anrufer fühlt sich als Looser, hat sein Auto schon mit einem Abgasschlauch präpariert. Er glaubt nicht an sich. Nach ca. 40 Minuten erreicht ihn die Idee, seine Wunsch-Frau noch einmal anzurufen. – Gerettet? Keine Ahnung.“
- „Ich habe Verständnis für ihre „Tat“ gezeigt, bis dahin gab es nur Vorwürfe. Das tat ihr gut.
- „ Die Anruferin hatte erlebt, dass die ihr liebsten Menschen kurz hintereinander verstarben. Sie wollte auch sterben und weinte hemmungslos.“
- „Die Frau des Anrufers war gerade gestorben, er selbst schwer krank. Sein beabsichtigter Suizid geriet in den Hintergrund, als er vom Verlauf seines Lebens und seiner Partnerschaft berichtete.“
Mitarbeitende im Gespräch mit Suizidenten, die ihren Plan ändern:
- „Der junge Mann hatte Medikamente genommen, weil er sterben wollte. Nach einer Weile habe ich angeboten, den Notarzt zu rufen. Das wollte er unter der Bedingung, dass ich die Verbindung mit ihm telefonisch halte.“
- „Die Frau des Anrufers war gestorben, er hatte immer gehofft, vor ihr zu sterben. Nun war es anders gekommen. Er könne und wolle nicht mehr leben. … Nach einem langen Gespräch habe ich meine Bewunderung ausgedrückt für den Lebensrückblick und gefragt, was seine liebe Frau zu seinem Vorhaben wohl sagen würde. Danach kam Stille.“
- „Es entwickelte sich ein längeres Gespräch mit einem Mann, bei dem der beabsichtigte Selbstmord nicht mehr im Vordergrund stand, sondern der Verlauf seines Lebens und seine Partnerschaft. Wohl auch, weil ich ihm vermitteln konnte, dass ich seinen Wunsch nachvollziehen konnte und ich selbst in ähnlicher Situation vor der gleichen Frage stehen würde. Es ergab sich ein sehr dichtes, intensives Gespräch.“
Beispiel für die Unterstützung Ehrenamtlicher
Im Abstand von wenigen Tagen wurde ich als Hauptamtliche zweimal nachts gegen vier Uhr von dem Mitarbeitenden im Nachtdienst angerufen. In beiden Fällen hatten die Mitarbeitenden (je eine Frau und ein Mann) gerade mit Männern gesprochen, die ankündigten, sterben zu wollen und sehr glaubwürdig Gründe und Mittel zur Verwirklichung dieses Wunsches benannt hatten. Beide Mitarbeitende waren unsicher, ob sie nun die Polizei informieren mussten, um die jeweilige Person zu retten. Sie hatten beide im Gespräch Details erfahren, die ihrer Einschätzung nach eine Identifizierung des Anrufenden evtl. möglich gemacht hätte. Mussten Sie diese Personen nun retten? – Eine schwierige Frage. Die Anrufenden wirkten ja beide glaubwürdig und waren in ihrem Wunsch zu sterben ernst zu nehmen. Würden der Mitarbeiter und die Mitarbeiterin, die diese unterschiedlichen Gespräche geführt hatten, besser mit der Vorstellung leben können, dass sie versucht oder dass sie nicht versucht zu hatten, diesen Menschen zu retten?
In beiden Gesprächen war es mir wichtig, zu prüfen, wie der Mitarbeitende diesen Kontakt verkraftet hatte und wie er bzw. sie einschätzte, wie die Geschichte ihrer Meinung nach weitergehen würde, was für ihn bzw. sie die bessere Wahl war. Für beide war es eine Gewissensentscheidung, die mit großem Respekt für die Geschichte des Anrufenden getroffen wurde. Sie kamen beide zu unterschiedlichen Entscheidungen, die sie heute, neun Monate danach, wieder so treffen würden.
Fazit
Gespräche mit Menschen, die sterben wollen kommen bei der TelefonSeelsorge vor. Sie sind aber eher selten. Wenn es Standards gibt, wie Menschen mit Todeswünschen begleitet werden sollten, dann sind es die an die Vorgaben von Carl Rogers angelehnten der Authentizität, der Empathie und der Wertschätzung. Suizidprävention im Sinne der TelefonSeelsorge ist nicht, um jeden Preis Leben zu retten. Es ist das Angebot der Beziehung, der Begleitung in der Hoffnung, eine Begegnung zu gestalten, die tragfähig ist. Eine solche Begegnung bewirkt, dass Menschen mit ihrem Todeswunsch nicht allein gelassen werden. Sie kann Halt geben und entlasten. Sie kann auch dazu führen, dass Suizidgefährdete sich entscheiden, weiter zu leben. Eine Garantie ist es aber nicht.